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Räumpflicht bei Gehweg mit geringer Verkehrsbedeutung und Haftung bei Verstoß

OLG Jena, Beschluss vom 22.12.2010 - Az.: 4 U 610/10

Leitsätze:

1. Die Verpflichtung, innerörtliche Geh- und Überwege für Fußgänger von Schnee und Eis zu räumen, besteht nicht uneingeschränkt; sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit, orientiert an der Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen. Maßgeblich abzustellen ist auf die Sicherheitserwartungen des jeweiligen Fußgängers, d.h. ob dieser bei vernünftiger Erwartung mit der Sicherung des Gehweges rechnen durfte oder nicht. Dabei bestehen grundsätzlich höhere Anforderungen als im (sonstigen) Straßenverkehr. Jedoch besteht auch hier eine Beschränkung auf "verkehrswichtige" Bereiche. Dieser Begriff ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem der Verkehrswichtigkeit bei Fahrbahnen. Aus dem Kreis der zu räumenden/bestreuenden Gehflächen sind vielmehr nur die tatsächlich entbehrlichen Wege, für die kein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis besteht, herauszunehmen. Andererseits muss grundsätzlich gewährleistet sein, dass auch zu Fuß jede Wohnung - auch von älteren und gebrechlichen Menschen - erreicht werden kann. (amtlicher Leitsatz)

2. Ist allerdings bei nur sehr geringfügigem Verkehrsbedürfnis dem Geschädigten seine eigene Unachtsamkeit als maßgeblicher Verursachungsbeitrag vorzuwerfen, kann im Einzelfall dem Geschädigten die haftungsrechtliche Verantwortung für das Schadensereignis allein zukommen mit der Folge, dass dahinter eine Pflichtverletzung des Verkehrssicherungspflichtigen völlig zurücktritt. Für die Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers (des Sicherungspflichtigen) oder das des Geschädigten selbst den Schadenseintritt nach den konkreten Umständen des Einzelfalls in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Kommt dabei dem Verhalten des Geschädigten eine überragende Bedeutung für den Schadenseintritt zu, hat er u.U. auch allein für den (seinen) Schaden aufzukommen. (amtlicher Leitsatz)

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Volltext

Tenor

Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 15.06.2010 - 3 O 1316/09 (486) - durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Klägerin erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11.01.11.

Gründe

Die Berufung (der Klägerin) hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg. Der Rechtssache kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus zu; erforderlich ist auch keine Entscheidung des Senats im Urteilsverfahren zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1-3 ZPO).

Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht die Schadensersatzklage der Klägerin wegen ihres Sturzes am 23. 01. 2006 in Folge von Glätte abgewiesen. Ob dem Landgericht im Einzelnen beizupflichten ist, dass im gegebenen Fall an der behaupteten Unfallstelle keine Räum- und Streupflicht bestanden hat, kann letztlich dahingestellt bleiben (das Landgericht hat hierzu den Klägervortrag als wahr unterstellt, aber keinen Beweis erhoben). In jedem Fall scheidet eine Haftung der Beklagten (auch) aus dem Gesichtspunkt des überwiegenden Mit- bzw. Alleinverschuldens der Klägerin aus.

Der erkennende Senat hat im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung für die aus § 49 Abs. 3 ThürStrG abzuleitende Räum- und Streupflicht auf Gehwegen im innerörtlichen Bereich folgende Grundsätze aufgestellt (vgl. dazu grundlegend OLG Jena v. 09.03.2005, juris mit weiteren Hinweisen; OLG Jena Beschl. v. 23.12.2009, 4 U 779/09):

Die Verpflichtung, innerörtliche Gehwege und Überwege für Fußgänger von Schnee und Eis zu räumen, besteht zunächst nicht uneingeschränkt; sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, ausgehend von der (jeweiligen) Leistungsfähigkeit der Gemeinde. Schon hieraus folgt - wie bei der Verkehrssicherungspflicht ganz allgemein - dass maßgeblich darauf abzustellen ist, ob die Fußgänger bei vernünftiger Sicherheitserwartung mit der Sicherung des Gehwegs rechnen durften oder nicht (so auch OLG Hamm OLGR 2004, 38, 39). Zwar bestehen bei der Sicherungserwartung des Fußgängerverkehrs höhere - strengere - Anforderungen als im Straßenverkehr. Jedoch folgt eine Beschränkung auch im Bereich der Gehwege auf "verkehrswichtige" Bereiche. Dieser Begriff ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem der Verkehrswichtigkeit bei Fahrbahnen, was oft verkannt wird. Aus dem Kreis der zu bestreuenden Gehflächen sind vielmehr lediglich die tatsächlich entbehrlichen Wege, für die ein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis nicht besteht, herauszunehmen. Andererseits hat der Senat ausgeführt, dass grundsätzlich gewährleistet sein muss, dass wenigstens zu Fuß jede Wohnung – auch von älteren und gebrechlichen Menschen – einigermaßen sicher erreicht werden kann (in Anlehnung an Schmid NJW 1988, 3177, 3181; OLG Frankfurt, Urt. v. 19.11.2003, 1 U 62/03, juris).

Unterstellt man zugunsten der Klägerin, dass ihr (und Ihres Ehemannes) Hausgrundstück nur über den Seitenarm der S-Gasse fußläufig erreicht werden kann, also nur über diese Stichstraße, so ist immerhin auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Hausgrundstück der Klägerin um das letzte Grundstück am Ende der Stichstraße handelt, für das ein Verkehrsbedürfnis also nur für die Bewohner dieses Hausgrundstücks besteht. Ob man in diesem Fall noch von einem nicht ganz unbedeutenden Verkehrsbedürfnis sprechen kann, braucht aber nicht entschieden zu werden.

Denn ist - wie hier - allenfalls von einem sehr geringfügigen Verkehrsbedürfnis auszugehen, kommt dem Umstand, dass der Klägerin ihre eigene Unachtsamkeit vorzuwerfen ist (§ 254 BGB), eine derart haftungsbegründende Bedeutung zu, dass eine Mithaftung der Beklagten ausscheidet. Das bedeutet, dass im gegebenen Fall die Klage unbegründet ist, weil die Klägerin ganz überwiegend selbst die haftungsrechtliche Verantwortung für ihren Sturz am 23.01.2006 trägt, hinter der eine - eventuelle - Pflichtverletzung der Beklagten völlig zurücktritt.

Auf die durch winterliche Witterung entstehenden Gefahren muss sich nämlich grundsätzlich jeder Verkehrsteilnehmer selbst einstellen und in eigenem Interesse unfallverhütende Maßnahmen ergreifen bzw. unfallträchtige Gefahren - wenn möglich - ganz vermeiden. Dazu gehört es auch, erkannte (besondere) Gefahren nach Möglichkeit zu umgehen. Lässt sich einer solchen Gefahr nicht ausweichen, muss man sich bei verkehrsgerechtem Verhalten die Frage gefallen lassen, ob es notwendig war, sich dieser Gefahr auszusetzen, wobei die Chancen, die Gefahr gleichwohl zu meistern (Grad der Beherrschbarkeit), und die Intensität der drohenden Rechtsgutverletzung (Grad der Gefährlichkeit) zu berücksichtigen sind. Im Rahmen der Haftungsabwägung kommt es entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Schadenseintritt nach den konkreten Umständen des Einzelfalls in wesentlich höherem Maß wahrscheinlich gemacht hat (vgl. dazu OLG Hamm NZV 1999, 127).

Unstreitig hatte die Beklagte bereits 14 Tage lang diesen Bereich nicht (mehr) bestreut. Zwar herrschten nach dem eigenen Vortrag der Klägerin nur am 19.01.2006 winterliche Verhältnisse; die Klägerin hatte aber Kenntnis davon, dass an diesem Tag die S-Gasse nicht geräumt und bestreut wurde. Am darauf folgenden Tag, dem 20.01.2006 herrschte - wieder nach Klägervortrag - Tauwetter. Schon aus diesem Grund bestand an diesem Tag keine Streupflicht, wenn es nicht zu einer allgemeinen Glätte kam. Eine solche - durch überfrierende Nässe - trägt die Klägerin aber erst für den Unfalltag, den 23.01.2006, vor. Unabhängig von einer eventuell bestehenden Streupflicht wusste die Klägerin, dass der Bereich der S-Gasse schon seit Tagen nicht mehr bestreut worden war.

In Kenntnis der erkennbaren Gefahr unternahm die Klägerin zusammen mit Ehemann und den Kindern C und E einen Winterausflug, wobei die Klägerin nach eigenem Vortrag den Schlitten mit ihrem Sohn C zog. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, ihr und ihrem Mann sei die starke Glätte bewusst gewesen (s. S. 5 3. Absatz der Klageschrift v. 30.12.2009), weshalb sie auch beim Gehen und Ziehen des Schlittens jede erdenkliche Sorgfalt aufgewendet habe. Offensichtlich aber nicht genug, denn sie ist - nach ihrem eigenen Vortrag - schlagartig ausgerutscht und hingefallen. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass die Klägerin dem Straßenbelag an dieser Stelle, wahrscheinlich handelte es sich um eine besondere Glattstelle, nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet hatte, die erforderlich war, diese Stelle sturzfrei zu überwinden oder diese ganz zu vermeiden, indem sie diese umging.

Schon nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 254 Abs. 1 BGB dahingehend auszulegen, dass es bei der Haftungsabwägung in erster Linie auf das Maß der Verursachung des Schadens ankommt, also das Maß, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein weiterer Faktor der Abwägung ist danach das beiderseitige Verschulden (BGH VersR 1968, 1093). Für die Haftungsverteilung kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten selbst den Schadenseintritt nach den konkreten Umständen in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Der BGH hat ausgeführt, dass in besonderen Fallgruppen dann, wenn dem Verhalten eines der Beteiligten für die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts eine überragende Bedeutung zukommt, die dann vorzunehmende Abwägung dazu führt, dass dieser Beteiligte allein für den Schaden aufzukommen hat (so auch BGH DAR 1998, 192 zit. bei OLG Hamm aaO).

Im vorliegenden Fall steht auf Grund der eigenen Ausführungen der Klägerin fest, dass sie von vorne herein die Gefahr, die durch das unterlassene Streuen auf Grund der nach dem 20.01.2006 bestehenden Wetterlage (starker Frost) für die (einzige) Zugangsstraße, die auch als Weg zu benutzen war, bestand, kannte. Dieser Gefahr war sie sich auch bewusst, wie sie ausdrücklich in der Klageschrift vorgetragen hat. Die sich aus dem Straßenzustand ergebende Glättegefahr konnte und musste daher für sie beherrschbar sein, wenn sie sich ihr - ohne Not - aussetzte. Für den Ausflug bis in die - dunklen - Abendstunden hinein bestand kein notwendiger Anlass. Die Klägerin und ihre Familie hätten den Ausflug auch zu einer günstigeren Zeit oder jedenfalls bis zur einsetzenden Dämmerung (etwa 17.00 Uhr) durchführen oder auch ganz lassen können. Zudem zog die Klägerin den Schlitten, was erkennbar eine Gefahrsteigerung für sie bedeutete, weil sie noch auf den "müden" Jungen (C) achten musste. Sie hätte sich, wenn es sehr glatt war, bei ihrem Ehemann einhaken können oder sich von ihm stützen lassen oder ihm den Schlitten überlassen müssen.

Gegebenfalls hätte sie, wenn der Straßenbelag sehr glatt war, auch das anliegende Bankett der Straße nutzen können. Auf diesem war die Gefahr überfrierender Nässe, wie sie auf dem abgefahrenen Straßenbelag bestand, nicht in gleicher Weise - wenn überhaupt - gegeben (s. die überreichten Lichtbilder, Anlage K3). Hier bestand auch genügend Raum.

Nach alledem hatte es die Klägerin in der Hand, ob und wie sie im konkreten Fall der erkannten Gefahr begegnete. Sie traf durch ihr Verhalten die Entscheidung für die Möglichkeit des Schadenseintritts; ihr Verhalten war also maßgeblich für den Schadenseintritt. Demgegenüber wiegt eine eventuelle Pflichtverletzung der Beklagten im Hinblick auf den konkreten Schadenseintritt gering. Ihre (eventuelle) Pflichtverletzung bestand in einem Unterlassen, das gegenüber dem risikobelasteten aktiven Tun der Klägerin erheblich weniger wiegt. Zwar hat die Beklagte durch ihr Unterlassen eine Erstursache gesetzt, die die Klägerin auf Grund ihrer Kenntnis der Gefahr aber beherrschen konnte und musste. Selbst wenn in dem Unterlassen (der Beklagten) in Ansehung einer Streupflicht ein schuldhafter Verstoß gegen gesetzliche Pflichten (hier aus § 49 ThürStrG) lag, ändert dies nach Auffassung des Senats nichts an der Beurteilung, dass erst das bewusste und zielgerichtete Verhalten der Klägerin deren Sturz in entscheidender Weise wahrscheinlich gemacht hat. Daher hat die Klägerin - im gegebenen Fall - für die Folgen des Sturzes auch allein einzustehen.

Bleibt ihre Berufung - im Ergebnis - mithin erfolglos, rät der Senat der Klägerin, ihr aussichtsloses Rechtsmittel innerhalb der Erklärungsfrist zurück zu nehmen; auf die erhebliche Kostenersparnis sei vorsorglich hingewiesen.