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Gully mit breiten Öffnungen verstoßen gegen Verkehrssicherungspflicht

BGH, Beschluss vom 14.10.1982 - Az.: III ZR 174/81

Leitsätze:

1. Ein Einlaufrost für Regenwasser (Gully), dessen Öffnungen längs zur Fahrbahn verlaufen und für Fahrradreifen zu breit sind, stellt eine Gefahrenquelle dar, die den Verkehrssicherungspflichtigen jedenfalls dann zum sofortigen Tätigwerden verpflichtet, wenn solche Gullys nicht allgemein verbreitet sind. Die wirtschaftliche Lage des Verkehrssicherungspflichtigen kann diesen jedenfalls dann nicht entschuldigen, wenn die Gefahrenstelle sich an einer stark befahrenen und engen Straße im Bereich einer Ampelanlage befindet. (Leitsatz des Herausgebers)

2. Von einer 10jährigen kann nicht erwartet werden, anders als ihre älteren Begleiter darauf zu verzichten, mit dem Fahrrad rechts an einer Schlange wartender Autos vorbeizufahren. (Leitsatz des Herausgebers)

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Gründe

a) Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass es sich bei dem Einlaufrost, durch den der Kläger zu Fall kam, um eine besondere Gefahrenquelle für Radfahrer handelte, weil die längs zur Fahrbahn verlaufenden Öffnungen für die Fahrradreifen zu lang und zu breit waren.

Zu Unrecht vermißt die Revision Feststellungen darüber, ob die ...-Straße häufig von Radfahrern benutzt wurde, ob diese im Rinnstein gefahren sind und ob es bereits früher häufiger zu Unfällen gekommen ist. Auf einer Straße mit starkem Verkehr und engen Fahrspuren ist immer damit zu rechnen, dass Radfahrer die gepflasterte Rinne am Fahrbahnrand benutzen. Eine Häufung von Unfällen ist zwar ein Anzeichen für eine besondere Gefahrenquelle, der Umkehrschluss, dass das Fehlen früherer Unfälle für die Ungefährlichkeit spreche, ist aber nicht gerechtfertigt (Senatsurteil vom 23.10.1961 - III ZR 122/60 = VersR 1961, 1121, 1124).

b) Die Beklagte war zur Beseitigung der Gefahrenquelle verpflichtet, seitdem Anfang 1973 die Straßenbaulast und damit auch die Verkehrssicherungspflicht auf sie übergegangen war.

aa) Das ergibt sich zwar nicht aus den vom Berufungsgericht zitierten DIN-Vorschriften und Empfehlungen des Bundesverkehrsministers als Rechtsnormen; so ist aber auch das Berufungsurteil kaum zu verstehen. Die genannten Vorschriften und Empfehlungen sind vielmehr Erkenntnisquellen dafür, was nach dem Urteil maßgeblicher Fachleute notwendig ist, um eine Straße in verkehrssicheren Zustand zu versetzen. Die von der Revision angegriffene Auffassung des Berufungsgerichts, dass neuere Facherkenntnisse nicht nur als Ratschläge für zukünftig zu bauende Straßen zu beachten sind, sondern auch Anlass für die Verbesserung bereits bestehender Straßen sein müssen, entspricht der Rechtsprechung des Senats; in seinem Urteil vom 12.04.1973 - III ZR 61/71 = VersR 1973, 637, 638 ging es nicht einmal um DIN-Normen oder ministerielle Empfehlungen, sondern nur um neuere Erörterungen im Fachschrifttum.

bb) Nicht jede Gefahrenquelle zwingt den Verkehrssicherungspflichtigen allerdings zur sofortigen baulichen Umgestaltung einer Straße. Zur Abwendung einer Schadensersatzpflicht können auch andere Sicherungsmaßnahmen - wie zulängliche Gefahrenwarnungen - genügen (Senatsurteil vom 06.07.1959 - III ZR 67/58 = VersR 1959, 830 m.w.N.). Solche vorläufigen Sicherungsmaßnahmen kamen hier praktisch jedoch nicht in Betracht, sind jedenfalls nicht getroffen worden.

Eine Verpflichtung zum sofortigen Tätigwerden kann sogar ganz entfallen, wenn es sich um eine Gefahr handelt, die ein Verkehrsteilnehmer, der die erforderliche Sorgfalt walten läßt, rechtzeitig zu erkennen vermag und auf die er sich dann noch ohne weiteres einrichten kann (Senatsurteil vom 10.07.1980 - III ZR 58/79 = VersR 1980, 946 = NJW 1980, 2194; Arndt, Straßenverkehrssicherungspflicht, 2. Aufl. Nr. 416 bis 418). Auch ein solcher Fall liegt hier aber - im Gegensatz etwa zur Lage bei Straßenbahnschienen - nicht vor. Wenn im Stadtbereich der Beklagten die Einlaufroste in der Mehrzahl ungefährlich sind - von 5 000 alten Gullys waren zur Unfallzeit nur noch 1 444 unverändert -, so kann von einem Radfahrer nicht erwartet werden, daß er in jeder Verkehrssituation rechtzeitig die gefährliche Schlitzlänge und -breite eines Einlaufrostes erkennt und sich darauf einstellt.

cc) Das Kriterium der Zumutbarkeit hat seine berechtigte Funktion bei der Abwägung, ob bei einer Gefahrenlage vom Verkehrssicherungspflichtigen Abhilfe oder vom Verkehrsteilnehmer eine - notfalls gesteigerte - Aufmerksamkeit und entsprechend vorsichtiges Verhalten zu verlangen sind (vgl. zu bb).

Die wirtschaftliche Lage des Verkehrssicherungspflichtigen kann berücksichtigt werden, wenn es darum geht, welches von mehreren geeigneten Mitteln zur Abwehr einer Gefahr gewählt werden kann, wie lange z.B. der Verkehrssicherungspflichtige sich mit einer bloßen Gefahrenwarnung begnügen darf und wann er zur Gefahrenbeseitigung verpflichtet ist (vgl. Arndt aaO Nr. 414 m.w.N.).

Ob aber darüber hinaus die Beschränktheit der öffentlichen Mittel ein - wenn auch nur zeitweiliges - völliges Untätigsein des Verkehrssicherungspflichtigen rechtfertigt, ist zweifelhaft (verneinend Arndt aaO, dahingestellt im Senatsurteil vom 26.10.1972 - III ZR 78/71 S. 11 = VersR 1973, 126). Selbst wenn man diese Frage nicht grundsätzlich verneinen will, ist jedenfalls dem Berufungsgericht darin zuzustimmen, daß die Beklagte hier im Einzelfall an der Unfallstelle wegen des starken Verkehrs und der Enge der Fahrbahn die Roste hätte schon längst vor dem Unfall auswechseln müssen. Das gilt insbesondere im Bereich vor der Ampelanlage, wo verstärkt mit einer Benutzung der Wasserablaufrinne durch Radfahrer zu rechnen ist, die sich rechts am Fahrbahnrand an dahinschleichenden oder wartenden Kraftfahrzeugen "vorbeischieben"; ein solches Verhalten ist - erlaubt oder unerlaubt - jedenfalls in der Praxis weitgehend üblich (vgl. Bouska DAR 1982, 108, 109/110).

c) Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht auch das nach § 839 BGB nötige Verschulden auf seiten der Beklagten bejaht. Es mag zweifelhaft sein, ob dabei auf die mit der regelmäßigen Überwachung der Unfallstraße betrauten Beamten und ihre Auswahl abzustellen ist. Die Beseitigung der von längs verlegten Einlaufrosten drohenden Gefahren stellte ein allgemeineres Problem dar, das auf höherer Ebene der Beklagten von den für die Planung Verantwortlichen hätte erkannt und gelöst werden müssen. Wenn die Revision darauf verweist, die nötigen Haushaltsmittel würden vom Gemeindeparlament im Haushaltsplan festgelegt, so vermag das die Beklagte nicht zu entlasten: Die Ratsbeschlüsse basieren zumeist auf entsprechenden Vorlagen der Verwaltung. Im übrigen sind auch die Mitglieder des Gemeinderats nach ständiger Rechtsprechung des Senats im haftungsrechtlichen Sinne als "Beamte" anzusehen (Urteil vom 26.06.1982 - III ZR 169/80 = VersR 1982, 954, 956 m.w.N.).

d) Bei der Beurteilung des Mitverschuldens kommt es auf die Frage, ob der Kläger rechts an der haltenden Fahrzeugschlange vorbeifahren durfte, nicht entscheidend an (vgl. dazu Bouska aaO, BGH Beschluss vom 13.021975 - 4 StR 508/74 = NJW 1975, 1330, 1331; a.A. OLG Hamm VRS 37, 267).

Selbst wenn objektiv ein Verkehrsverstoß des Klägers bejaht werden müsste, wird das Berufungsurteil insoweit doch von der Hilfsbegründung getragen, daß der Kläger als 10jähriger gemäß § 828 Abs. 2 BGB nicht verantwortlich gemacht werden könne, weil ihm die erforderliche Reife gefehlt habe, um sich von dem Verhalten der zwei mit ihm fahrenden älteren Jungen abzusetzen. Die dagegen gerichteten Revisionsangriffe können nicht durchdringen.

Dass der voranfahrende Zeuge ... schon 40 bis 60 m weiter war und der nachfolgende Bruder des Klägers im Unfallzeitpunkt den Unfall-Lkw noch nicht passiert hatte, ändert nichts an der Feststellung des Berufungsgerichts, dass alle drei gemeinsam schon vorher an den - auch hinter dem Lkw haltenden - Fahrzeugen vorbeigefahren waren.